Kein geopolitisches Thema bewegt die türkische Community intensiver als die israelische Militäroperation im Gaza. Hunderttausende gingen in den vergangenen Tagen auf die Straße, es kam zu gewalttätigen Übergriffen und soziale Medien sind nahezu überschwemmt mit anti-israelischen und/oder antisemitischen Parolen und Bildchen. Die Vorkommnisse im Gazastreifen empören in der Türkei zweifellos mehr Menschen als der ungleich blutigere und die Türkei deutlich mehr betreffende Bürgerkrieg in Syrien.
Betrachtet man die über 880 vorwiegend türkisch-stämmigen Angemeldeten für die Pro-Gaza-Demo in Linz, hat man wohl einen ungefähren Durchschnitt dieser Bevölkerungsgruppe: Säkulare und Religiös-Konservative, Rechte und Linke in allen Spielarten von bekennenden KPÖ-Anhängern, linken KurdInnen bis zu MHP-Faschisten, SchülerInnen und UnternehmerInnen, Männer und Frauen – letztere ebenso mit Kopftuch wie auch im Minirock, ATIB- und Milli Görüs-Gruppen. Der Demo-Aufruf erfolgte von einer Seite namens „free Palestine“, einer bei facebook als Gemeinschaft angemeldeten Gruppe (?), deren Betreiber sich nicht die Mühe machen, Objektivität oder Friedfertigkeit zu heucheln: „Die scheis israelis kriegen dass und mehr zurück die scheis Bastarde“ oder (über eine israelische Abgeordnete) „Solche missgeburten würde gerne die fresse pullieren“ schreibt „free Palestine“. Kritische Kommentare dazu? Fehlanzeige.
Angesichts der heterogenen DemonstrantInnenschar hat man nicht den Eindruck, es handle sich bei den Gaza-Fans um einen Haufen ungebildeter Landeier und religiöser Eiferer. Nein, es sind sogar auffallend viel Menschen darunter, die man als „bestens integriert“ bezeichnen würde: GymnasiastInnen und Studierende, UnternehmerInnen und höhere Angestellte. Warum ist das so, in einem Land, wo Antisemitismus recht wenig Tradition hat?
Die AKP und die NationalistInnen
Premier Erdogan hat viele Gründe, den Konflikt anzuheizen. Zum einen kann er sich als Schirmherr des sunnitischen Islams inszenieren, als heimlicher Kalif quasi, dessen Worte und Werte auch jenseits der türkischen Grenzen Gewicht haben. Nach einem langen Jahr mit den Gezi-Park-Protesten, dem Unglück von Soma, dem Zerwürfnis mit der mächtigen Gülen-Bewegung und ohne Verhandlungserfolg mit den KurdInnen kommt die Eskalation in Gaza kurz vor den Wahlen im August wie bestellt. Die einzige Frage, in der ein nationaler Konsens zu herrschen scheint, bestimmt nun die Politik und die Stimmung der Gesellschaft. Erdogan wird die Wahlen im Gaza-Streifen gewinnen.
Bei der extremen Rechten war der Antisemitismus zwar virulent vorhanden, aber selten intensiv ausgelebt worden. Für kapitalistische Krisen machte man in der Türkei traditionell ArmenierInnen verantwortlich. Ebenso für die Gründung der PKK. Da ArmenierInnen und KurdInnen momentan nur beschränkt als Feindbild taugen, hat man sich nun aber auch verstärkt Israel zugewandt. Erdogans Position wird als zu lasch kritisiert, gezielt werden Gerüchte im Umlauf gebracht (auch von den Vereinen der „Grauen Wölfe“ in Österreich), Erdogan paktiere in Wahrheit mit den JüdInnen.
Auch der Ablenkung von der eigenen Minderheitenpolitik dient die Dämonisierung Israels. Wenn Israel einen Völkermord an den PalästinenserInnen begeht, dann muss ja die türkische Politik gegenüber den ArmenierInnen und KurdInnen fast human sein.
Ein weiterer, noch wenig bedachter Effekt. Die Dämonisierung nahezu aller „westlicher“ Waren als „jüdisch“ und das gleichzeitigen Bewerben türkischer Waren mittels einfacher Bildchen. Ein Schelm, wer hier an billige umsatzsteigernde Maßnahmen denkt:
Die Linke
Auch die linken Organisationen und Parteien versuchen sich in rabiatem Israel-Hass und darin, Erdogan als Heuchler darzustellen, der hinterrücks nach wie vor Geschäfte mit Israel macht:
Die Linke präsentiert sich gefangen im Antiimperialismus der 1960er und 1970er Jahre. Jeder Konflikt muss zwangsläufig in das Schema „Befreiungsbewegung vs. Imperialisten“ gepresst werden. Logik oder gar Analyse bleiben auf der Strecke. Zum politischen Islam fällt einem nicht mehr ein, als Organisationen die einem gerade in den Kram passen als antiimperialistisch zu deuten (Hamas), jene die das nicht tun als „von imperialistischen Mächten gesteuert“ (wie der „Islamische Staat“ in Syrien und dem Irak). Der Komplexität der Region kann man so nicht gerecht werden. Und will man auch nicht: Lieber beteiligt man sich an den inner-türkischen Meisterschaften im Israel-Bashing. Die in Österreich vertretene ATIGF („Föderation der Arbeiter und Studenten aus der Türkei in Österreich“) schwafelt von der „faschistischen Diktatur Israel“, die DIDF („Föderation Demokratischer Arbeitervereine“) findet den Vergleich des Staates Israel mit dem NS-Regime treffend:
Die Jugendkultur
Antisemitische Statements und Weltverschwörungstheorien sind eine Selbstverständlichkeit in Teilen der deutschen bzw. deutsch-migrantischen Hip Hop-Kultur geworden, deren KonsumentInnenkreis natürlich nicht nur, aber auch große Teile der türkisch-stämmigen Kids umfasst. Eine ganze Reihe relevanter Künstler des Gangster- bzw. Battleraps zeigen sich hier verhaltensauffällig: Integrationspreisträger Bushido etwa twitterte eine Landkarte, auf der Israel nicht mehr existiert – an seiner Stelle gibt es nur mehr „Palestine“. Kurdo, der deutsche Rapper mit kurdisch-irakischen Wurzeln äußerte sich auf facebook hocherfreut über den Platzsturm eines antisemitischen Mobs in Bischofshofen: „Ich Feier die Jungs“ und „Bin voll auf eure Seite Jungs“ kommentierte er und erntete dafür an die 30 000 „Gefällt mir“. Das Befürworten antisemitischer Übergriffe als Massenphänomen. Der deutsch-kurdische Musiker Haftbefehl untermauert seine Forderung „Free Palestine“ im gleichnamigen Video mit dem Herumfuchteln mit einer Bazooka und rappt in „Psst“, er verkaufe „Kokain an die Juden von der Börse“. Fix im Programm haben den Antisemitismus noch weitere Acts wie Celo & Abdi oder Bözemann. Kollegah formuliert etwas vorsichtiger in seinen Liedern über die Weltverschwörung der Freimaurer und Illuminaten, die auch im christlichen Mainstreamer Xavier Naidoo einen Gläubigen gefunden hat.
Was bleibt
Es gibt einen fixen Anti-Israel-Konsens in der türkischen politischen und medialen Landschaft. Dieser wird via Satellitenfernsehen und social media in alle Teile der Welt hinausgeplärrt. Gruppierungen des politischen Islams teilen diese Politik, unterscheiden sich aber in ihrer Propaganda wenig bis gar nicht vom Antisemitismus der säkularen Rechten und der Linken. Die Sache hat also viel mit türkischer Innenpolitik und wenig mit Religion zu tun. Und sie spielt sich vor allem auf der Gefühlsebene ab, die wiederum mit möglichst blutrünstigen Bildchen, bevorzugt verletzten oder toten Kindern, angesprochen wird. Dagegen argumentiert es sich schwer. Kritische Stimmen, die es durchaus auch aus der türkischen bzw. kurdischen Community gibt, werden rasch niedergebrüllt. Es wird wohl erst nach dem Ende der Kampfhandlungen in Gaza und dem damit verbundenen Abflauen der Hysterie möglich sein, überhaupt miteinander zu sprechen.