Der Krieg in Afrin wird von Erdoğan zum nationalen Gemeinschaftsunternehmen stilisiert. Das zerrissene Land soll sich hinter der Armee vereinen. Realistische Kriegsziele gibt es nicht.
Anfang März, in der türkischen „Süper Lig“ läuft Trabzon gegen Beşiktaş Istanbul auf. Doch die Kinder, die traditionell die Fußballstars aufs Feld begleiten, tragen heute nicht die Dressen der Heimmannschaft. Nein, man hat sie in unterschiedliche Uniformen türkischer Truppenteile und Spezialeinheiten gesteckt. Sie salutieren. Eine derzeit alltägliche Szene. Man spielt Krieg und inszeniert den Krieg als Spiel, als großes Abenteuer. Und die ganze Nation macht begeistert mit: Nicht nur die großen Fußballvereine, auch die Unternehmerverbände, die gleichgeschalteten Medien und alle Parteien, ausgenommen die „Vaterlandsverräter“ der pro-kurdischen HDP. Aber die werden, geschwächt durch ständige Repressalien, ohnehin öffentlich nur mehr wenig wahrgenommen. Im Jänner reichten einige hundert Verhaftungen – für türkische Verhältnisse Peanuts – um den Protest im Keim zu ersticken.
Außer Krieg hat die Türkei keinen Plan
Der Rest des Landes suhlt sich im Rausch des Nationalismus. Der Beginn der „Operation Olivenzweig“ war das Ende des „Parteiengezänks“ zwischen Gegnern und Befürwortern des Präsidialsystems, das Ende des Gejammers über schlechte Wirtschaftsdaten, schwache Lira und kriselnden Tourismus. Der einigende Befreiungsschlag, der die Türkei aus der Umklammerung einer Welt befreien soll, die sich angeblich gegen sie verschworen hat. Die YPG in Syrien ist da mehr Zufallsopfer als echter Feind. Eine reale Gefahr, gar Terrorismus gegen die Türkei geht von ihr nicht aus. Was man mit den nun eroberten Gebieten anfangen soll, auch dafür hat man keinen realistischen Plan. In 40 Jahren ist es der Türkei nicht gelungen, den Widerstand der PKK im Inland zu brechen, warum man nun plötzlich gegen die militärisch wesentlich stärkere YPG glatt und vor allem dauerhaft „auswärts“ siegen sollte, können einem auch glühende Nationalisten nicht erklären. Vielmehr läuft man Gefahr, sich bald einer neuen, radikaleren Variante des kurdischen Separatismus gegenüber zu sehen, Gruppierungen, die keine Rücksicht auf ZivilistInnen nehmen oder vielleicht sogar gezielt „weiche“ Ziele angreifen. Und will man sich nicht dauerhaft in Syrien engagieren, muss man dort wohl zwangsläufig eine Herrschaft djihadistischer Banditen installieren und diese weiterhin unterstützen, um die YPG, vielleicht auch mal Assad hintanzuhalten.
Es ist ein Krieg um des Krieges Willen
Aber all das scheint heute noch egal. Wer braucht schon Konzepte, wenn es zackige Marschmusik, bunte Fähnchen und schneidige Uniformen gibt. Bülent Tezcan, Sprecher der kemalistischen CHP, die sich gegenüber der EU gerne als sozialdemokratische, säkulare Opposition darstellt: „Möge Allah unserem Volk und unseren Soldaten helfen. Wir hoffen, dass die Operation Olivenzweig ihr Ziel in kurzer Zeit erreicht und unsere Soldaten unversehrt zurückkehren“. Davon kann natürlich keine Rede sein. Nicht wenige „unserer Soldaten“ haben mittlerweile die Heimreise in Holzkisten, natürlich hübsch dekoriert mit der türkischen Flagge, angetreten. Bevor ihr Blut getrocknet ist werden sie neuerlich missbraucht, werden ihre Fotos, am besten auch noch welche ihrer weinenden Mütter und Kinder, durch die Propagandaseiten gejagt. „Şehitler ölmez, vatan bölünmez!“ – „Die Märtyrer sind unsterblich, das Vaterland unteilbar“ lautet eine der Standardphrasen, die die Todesnachrichten umschmücken. Warum man dieses Vaterland in Syrien, vielleicht auch noch bald im Irak verteidigen sollte, das braucht niemand wirklich zu wissen. Die Regierung hat sich noch nicht mal wirklich die Mühe gegeben, Kriegsgründe zu inszenieren. Es ist ein Krieg um des Krieges Willen. Ein Krieg, ohne konkrete, realistische militärische oder politische Ziele, außer jenem, innenpolitischen Konsens herzustellen. Er „muss fortgesetzt werden – bis alle terroristischen Elemente ausgelöscht sind“, stellt die AKP-nahe Daily Sabah grimmig fest. Oder doch zumindest bis Erdoğan die Wahlen im nächsten Jahr gewonnen hat. Ob der Rausch des Nationalismus so lange anhält ist fraglich. Der Kater danach wird jedenfalls ein fürchterlicher sein.
Thomas Rammerstorfer ist freier Journalist mit den Themenschwerpunkten Extremismus, Türkei und Jugendkulturen. Im Juni 2018 erscheint sein Buch „Graue Wölfe – Türkische Rechtsextreme und ihr Einfluss in Deutschland und Österreich“