Mehr als hundert Jahre Einsamkeit

aus: LeEza-News 1/2015 (www.leeza.at)

Ein Jahrhundert nach dem Genozid kämpfen die ArmenierInnen noch immer darum, das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen.[1] Doch auch aktuelle Bedrohungen lauern in der Region.

Es war nur eine Fußnote in den Berichten über die Verbrechen des „Islamischen Staates“. Am 21. September 2014, dem Unabhängigkeitstag der Republik Armenien, wurde im syrischen Deir az-Zor die Gedächtniskirche an den Völkermord gesprengt. Deir az-Zor, das hat für die ArmenierInnen die Bedeutung von Auschwitz[2] (Peter Balakian) oder Theresienstadt[3] (Rolf Hosfeld). Die Stadt am Euphrat war das Ziel vieler Deportationszüge 1915/16. Wer nicht unterwegs gestorben ist, starb hier: Hunderttausende. Auch die lebenden ArmenierInnen der Region waren 2014 verstärkt Angriffen ausgesetzt, etwa auf das Dorf Kesab im Frühling und das armenische Viertel Aleppos. Gewalt und Vertreibung sind alte Bekannte für die christlichen Gemeinden der Region. Vor 100 Jahren begann mit dem „Aghet“ (armenisch für „Katastrophe“), dem Völkermord an den ArmenierInnen, das bislang grausamste Kapitel rassistisch und religiös motivierten Hasses in der Region.

Neunzehnhundertfünzehn

1908 putschte sich im Osmanischen Reich die konstitutionalistische, heterogene Bewegung der „Jungtürken“ an die Macht. Innerhalb der jungtürkischen Bewegung setzte sich bald das türkisch-nationalistische und rassistische „Komitee für Einheit und Fortschritt“ durch. Ein Triumvirat aus Enver, Cemal und Talat Pascha leitete nun diktatorisch die Geschicke des Landes. Ihr Traum war die Umwandlung des krisengebeutelten Vielvölkerstaates in einen türkischen Nationalstaat. Angestrebt wurde der Anschluss der von turksprachigen Völkern bewohnten Teile Russlands und die Vertreibung der christlichen Minderheiten der GriechInnen, ArmenierInnen, AssyrierInnen und ChaldäerInnen.

Die etwa 2 Millionen Köpfe zählende armenische Bevölkerung besiedelte vor allem die östlichen Provinzen Anatoliens und bildete kleinere Minderheiten in den Großstädten. Da den ArmenierInnen und anderen ChristInnen eine Offiziers- oder Beamtenlaufbahn verboten war, konzentrierte sich das Bürgertum im Handels- und Bankenwesen. Bereits in den Jahrzehnten vor Aghet dienten die ArmenierInnen immer wieder als Sündenböcke für Krisen und waren Pogromen ausgesetzt. Ende des 19. Jahrhunderts und 1909 forderten diese zigtausende Menschenleben. Die Dominanz der christlichen Intelligenz sollte beendet werden, eine türkisch-nationale Bourgeoisie entstehen.

Mit dem Eintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten Deutschlands und Österreich-Ungarns in den Ersten Weltkrieg sah das Triumvirat seine Chance, sich seiner christlichen Minderheiten endgültig zu entledigen. Man machte die armenische Bevölkerung für die militärischen Fehlschläge im Kaukasus verantwortlich. Pauschal wurde ihnen vorgeworfen, das Osmanische Reich zugunsten Russlands zu verraten. Bald wurden Deportationspläne ausgearbeitet, die von Armee und Bürokratie unter Führung des „Komitees“ und seiner Geheimorganisation der „Teşkilât-ı Mahsusa“  (dt. „Spezialorganisation“) durchgeführt werden sollten.

Am 24. April 1915 war es soweit. Mehr als 2000 armenische Intellektuelle, Politiker, Geistliche, Ärzte und sonstige Notabeln wurden verhaftet, deportiert und meist ermordet. Im Mai wurde das Deportationsgesetz beschlossen. Armenische Soldaten wurden aus der Armee entfernt und meist durch Arbeit (Straßenbau) vernichtet. Bald waren alle Männer im wehrfähigen Alter eingesperrt, auf Todesmärschen oder auf der Flucht. Und dieses Mal sollte sich die Angelegenheit nicht auf lokale Massaker und Plünderungen beschränken, sondern die ArmenierInnen gänzlich vernichtet werden. Bald wurde die verbliebene armenische Bevölkerung in Marsch gesetzt. Frauen, Kinder, Greise sollten oft viele hundert Kilometer bis in die syrische Wüste getrieben werden. Bald krank, verhungernd und unter aller erdenklicher Gewalt ihrer Bewacher leidend, dezimiert durch Überfälle kurdischer und tscherkessischer Banden, gingen die ArmenierInnen dem ihnen zugedachten Schicksal entgegen. Viele versuchten wenigstens ihre Kinder zu retten, indem sie diese an muslimische Familien gaben. Andere konvertierten zum Islam, was aber nur in wenigen Fällen tatsächlich Sicherheit bedeutete. Der Genozid war mehr rassistisch denn religiös motiviert. Die türkischen, kurdischen und arabischen NachbarInnen standen der Aussiedlung der ChristInnen oft negativ gegenüber, hatte man doch Jahrhunderte friedlich zusammen gelebt. Eine ganze Reihe muslimischer Landräte und Provinzgouverneure wurde wegen ihrer Weigerung, sich am Völkermord zu beteiligen, abgesetzt oder gar ermordet. Denkmäler gibt es für diese Helden in der Türkei nicht; nur für die Mörder.

Bereits im August 1915 tönte Talat: „Die armenische Frage existiert nicht mehr“[4]. Doch bis 1917 ging das Morden weiter, dem die sich anbahnende Niederlage der Mittelmächte ein Ende setzte. Eine kurzlebige armenische Republik wurde von den Truppen Mustapha Kemals zerschlagen, ihre Reste fielen an die Sowjetunion, wo sie bis 1991 eine „sozialistische“ und seither eine „unabhängige“ Republik bilden. Die juristische Aufarbeitung der jungtürkischen Verbrechen im nunmehr von der Entente besetzten Osmanischen Reich endete mit dem Sieg der Nationalbewegung des späteren „Atatürk“. Zu viele seiner Mitstreiter hatten armenisches Blut an den Händen.

Zweitausendundfünfzehn

Kaum ein Land hat Geschichtsfälschung mit ähnlichem Aufwand und Nachdruck betrieben wie die Türkei. Im Rahmen der von den Jungtürken begonnenen und den KemalistInnen fortgesetzten „Türkifizierung“ wurden zigtausende geographische und menschliche Namen geändert. Auf allen Ebenen, mit allen Mitteln tobte sich die Hegemonie-Wut aus: Pseudowissenschaftliche Institute leugnen den Völkermord. Türkische Diplomaten in aller Welt laufen Sturm gegen die zu runden Jahrestagen erklärten Verurteilungen des Genozids. Faschistische Banditen morden, Staatsanwälte klagen, Medien hetzen. Im Vergleich zum Werken seiner kemalistischen und konservativen VorgängerInnen hat sich die Lage der ArmenierInnen in der Türkei unter Erdogan aber sogar leicht verbessert. Erdogans Aussagen zu den „Ereignissen“ sind zwar ebenso widersprüchlich wie zu den meisten anderen Themen, in der Praxis gab es kleine Fortschritte. Eine Reihe von Kirchen und anderer Immobilien wurde an die christlichen Gemeinden zurückgegeben und renoviert, Anfang Jänner 2015 gab man die Genehmigung eines Kirchenneubaus in Istanbul bekannt – erstmals in der Geschichte der Republik Türkei und wohl nicht ganz zufällig am Vorabend des einhundertsten Jahrestages des Beginns des „Aghet“. Ob die AKP-Regierung sich abseits symbolischer Gesten um eine dauerhafte Verbesserung der Lage der Minderheiten in der Türkei bemühen wird darf nach den Erfahrungen der letzten Jahre zumindest angezweifelt werden.

Thomas Rammerstorfer lebt in Wels/Oberösterreich, ist freier Journalist und Mitarbeiter von LeEZA, zum Thema erschien zuletzt „Fragen nach dem vergessenen Genozid – KünstlerInnen und AktivistInnen rütteln am größten Tabuthema der Türkei: dem Völkermord an den ArmenierInnen“, siehe https://jelinektabu.univie.ac.at/politik/vergangenheit/thomas-rammerstorfer/

[1] Zit. Nach Franz Werfel, Vorwort zu Die vierzig Tage des Musa Dagh

[2] http://www.nytimes.com/2008/12/07/magazine/07lives-t.html?fta=y&_r=0

[3] Hosfeld, Operation Nemesis, S. 191

[4] Talat Pascha, 31. 8. 1916, zit. nach Lepsius, Deutschland und Armenien, Potsdam 1919