Interview zu „Frei.Wild“ (aus Echo, Mai 2013)

ECHO: Sie sagen, Frei.Wild sei keine rechtsextreme oder Neonazi-Band. Ist die ganze Diskussion also überzogen?

Thomas Rammerstorfer: Meines Wissens hat noch niemand Frei.Wild als Neonaziband bezeichnet. Frei.Wild verteidigen sich nur ständig deswegen, weil sie sich gerne in der Märtyrerrolle sehen, oder weil sie die Begrifflichkeiten nicht differenzieren – das weiß ich nicht. Die meiste Kritik an Frei.Wild finde ich berechtigt, allerdings finde ich nicht, dass die Band das große Problem wäre: die Plattenindustrie hat Nachfolger für die Bösen Onkelz gesucht, eine Band die das rechtskonservative Spektrum abdeckt, und Frei.Wild ist es geworden.

ECHO: Was ist bedenklich an Frei.Wild?

Rammerstorfer: Wie Frei.Wild zum Heimatbegriff steht, finde ich (…) bedenklich. Denn in den Songs geht es ja nicht nur darum, dass sie ihre Heimat lieben, sondern dass sie mehr oder weniger alle hassen, die das nicht tun. Der Hass auf jede Art von Kritik, dieses Schwarz-Weiß-Denken – wer nicht für uns ist, ist gegen uns – da steckt schon ein sehr, sehr einfaches Weltbild dahinter. Der „hassen“ an sich ist ja ein zentrales Thema ihrer Musik. Verbale Aggression auf aggressiver Musik zu transportieren, das kann Stimmungen erzeugen, die sehr bedenklich sind. Ich habe von Frei.Wild-Fans viele Mails gekriegt. Rund die Hälfte war halbwegs höflich, aber inhaltlich meist undifferenziert, sehr viele allerdings war von blankem Hass erfüllt.

ECHO: Fördert Frei.Wild diese Haltung der Fans Kritikern gegenüber?

Rammerstorfer: Man hasst ja Kritiker, es gibt es keine Dialogbereitschaft. Was passiert in der Realität: Frei.Wild stellt sich der Kritik nicht. Für mich unglaublich ist dieses fast schon widerliche Selbstmitleid. Was ist der Band passiert? – Es ist eine Hand voll Auftritte abgesagt worden, es hat Antworten gegeben auf die Provokationen der Band, es hat Kritik gegeben. Ansonsten hat es weder juristische Maßnahmen gegeben, diese Band zu schädigen oder sonst was. Umgekehrt ist es aber schon so, dass Frei.Wild mit juristischen Mitteln gegen Kritiker vorging, oder Leuten, die sich über die Band lustig machten, mit juristischen Konsequenzen droht. Es ist eine völlige Verdrehung der Realität, was diese Band in ihrer Verteidigungs- besser gesagt  in ihrer Angriffslinie praktiziert. Das ist für mich traurig, weil den jungen Leuten ein Muster vorgegeben wird: Du hast immer Recht, alle, die dich kritisieren, sind Idioten, die musst du hassen, bekämpfen, mundtot machen. Das ist eine Lebensanleitung für Jugendliche, die ich sehr bedenklich finde, neben diesen nationalistischen und sonstigen problematischen Inhalten.

ECHO: Wie sollte die Politik agieren?

Rammerstorfer: Das muss jeder Hallenbesitzer- oder Verwalter selbst entscheiden, ob er diese Band spielen lassen will. Für mich viel wichtiger ist, das Thema an sich zu diskutieren, also den erstarkenden Nationalismus bei Jugendlichen, auch im Rahmen von bildungspolitischen Maßnahmen versuchen, dem entgegenzuwirken. Nationalismus ist ein Spiel mit dem Feuer. Das Risiko der Eskalation ist latent vorhanden, auch in der Südtirol-Frage, die irgendwann durchaus wieder gewalttätig „diskutiert“ werden könnte.

Anmerkung August 2013: Das mit der Dialogbereitschaft möchte ich mal relativieren. Von seiten Frei.Wilds gibt es die – zumindest mir gegenüber – durchaus.

Der Misserfolg hat viele Väter

Die oberösterreichischen Behörden versagen im Kampf gegen Neonazis auf der ganzen Linie. Das Problem liegt nicht beim Verfassungsschutz alleine

Als ich im März 2010 erstmals auf den Neonazi-Club „Objekt 21“ stieß, dachte ich diese Angelegenheit würde sich innerhalb weniger Wochen erledigen. Die „Objektler“ agierten nahezu absurd dilettantisch. Tätowierte Hakenkreuze, völlig offensichtliche NS-Propaganda im Internet, SS-Runen als Wanddekoration, dazu kriminelle Aktivitäten. Der Kopf der Bande, Jürgen W., ein fanatischer Nazi, war zudem den Behörden bestens bekannt. Seit 2001 wurde er regelmäßig einschlägig verurteilt – in Oberösterreich ein Kunststück! – zuletzt 2009, wo er einen „Kampfverband Oberdonau“ leitete. Im Frühling 2010 also hätte es ohne jeden Zweifel mehr als genug Beweise gegeben, die Gruppe zu zerschlagen. Es dauerte aber noch fast drei Jahre, ehe die Behörden tatsächlich durchgriffen.

Fast drei Jahre, in denen die Ermittlungen von verschiedensten Stellen hintertrieben, verraten, verschleppt und sabotiert wurden. Als sich im August 2010 der Verfassungsschutz zu einer ersten Hausdurchsuchung aufraffte, war die Bande aus Kreisen der Vöcklabrucker Polizei vorgewarnt. Die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck sollte noch bis zum nächsten Jahr brauchen, um zumindest den Verein aufzulösen. Die Staatsanwaltschaft Wels zögerte trotz eindeutigster Beweislage jahrelang mit einer Anklageerhebung.

Fast drei Jahre, in denen die Neonazis ihre Aktivitäten intensivieren und professionalisieren konnten. Eine Firma wurde gegründet, mehrere Rotlicht-Unternehmen übernommen, ein Versand für Fascho-Brimborium entstand; parallel dazu veranstaltete man weiter Nazi-Konzerte und nistete sich in zahlreichen Nischen krimineller Ökonomie ein: Frauenhandel, Waffenhandel, Drogenhandel, ja selbst Handel mit gestohlenem Metall wird der Bande vorgeworfen. Dazu noch Brandanschläge, Körperverletzungen und zahllose weitere Delikte. Woche für Woche neue Verbrechen. Die Behörden schauten zu, schauten weg, was auch immer.

Fast drei Jahre, in denen die Nazi-Mafiosi in aller Öffentlichkeit agierten. Allein die Tageszeitung „Österreich“ widmete der Bande 21 (!) Artikel – vor dem Zugriff der Polizei im Jänner 2013. Bei meinen Vorträgen in diesen Jahren an Schulen oder Jugendzentren im Bezirk Vöcklabruck musste ich feststellen, dass das Treiben der „Objektler“ selbst unter 15-jährigen in der Region allgemein bekannt war. Und schon 2011 räumte ein Verfassungsschützer ein, die Bande würde auch in Drogen und Waffen machen.

Fast drei Jahre, in denen der ab 2010 (wegen seiner Delikte mit dem „Kampfverband Oberdonau“) inhaftierte Jürgen W. die Geschicke der Gruppe weiterhin leiten konnte, aus dem Knast, via Handy und facebook. Als „Suben Knaki“ ist W. dort registriert, ebenso wie die andren Köpfe der Bande problemlos auszuforschen. Um die Ermittlungen der Polizei abzukürzen, hätte auch ein Blick auf facebook genügt, wo „Objekt 21“ über eine offen einsehbare Fanseite verfügt, Rubrik „Lokales Geschäft“.

Wohl noch nie in Österreich hat eine dermaßen kriminelle, wenn nicht terroristische Organisation so lange und so ungeniert in aller Öffentlichkeit agieren können. Der Fehler ist sicher nicht nur beim Verfassungsschutz zu suchen. Polizei, Justiz, die Bezirkhauptmannschaft und die Landespolitik haben kollektiv versagt. Die Details dieses Versagens müssen schleunigst aufgedeckt werden.

Auch sollte an Menschen gedacht werden, die in der bisherigen Diskussion nicht erwähnt wurden: Den Opfern. Wenn tatsächlich auch Menschenhandel und Zwangsprostitution im Spiel waren, wäre es interessant zu erfahren, ob und wie man den Betroffenen helfen kann bzw. sie vor eventuell drohenden fremdenpolizeilichen Repressalien schützen kann.

Thomas Rammerstorfer beschäftigt sich mit Rechtsextremismus und Jugendkulturen (Vortragsreihe „Brauntöne“). Er ist aktiv beim Infoladen Wels und Vorstandsmitglied der Welser Initiative gegen Faschismus.

 

Satanische Mächte, eklige Riten. Ein Weltverschwörungsideologe an einer Wiener Mittelschule

Weltverschwörungstheorien sind alt wie die Welt, kommen aber in stets modernisiertem Gewand daher: Aktuell ist der „Truth-Rap“ Vehikel für das Mitteilungsbedürfnis der verschrobenen Gemeinde. Auf offenen Antisemitismus verzichten die „Truther“ oder „Infokrieger“, die in Zeiten von Krisen des Kapitalismus traditionell verstärkten Zulauf erfahren, mittlerweile weitgehend. Man rappt gegen die Teufeleien der Freimaurer, Bilderberger oder schlicht der „Illuminaten“, die eine „Neue Weltordnung“ etablieren wollen. Die Methoden, derer sie sich mutmaßlich bedienen, sind an Gemeinheit kaum zu überbieten: Chemikalien im Trinkwasser, der Atemluft und sogar der Zahnpasta machen uns zu willfährigen Idioten und Ja-Sagern. Nur die „Truther“ kennen die Wahrheit, und es liegt an Ihnen das Volk zu erlösen. Eine fixe Szene-Größe ist der Wiener Kilez More, dem es an Selbstbewusstsein nicht mangelt: „Ich bin der – der Prophet, weil ich seh was bevorsteht“[1] reimt er. So weit, so schwachsinnig. Auftritte hat Kilez More vor allem bei den Happenings der Truther, oder am Stephansplatz bei einer Kundgebung des ins Obskuranten-Eck abgerutschten „Occupy“- Bündnisses.

Auch eine Institution, in der Kinder eigentlich was lernen sollten, gab ihm ausreichend Raum seine Thesen – oder auch: sein Wahnsystem – zu präsentieren: Die Kooperative Mittelschule in der Wiener Pazmanitengasse. Offenbar hat sich hier eine Klasse intensiv und völlig unkritisch mit den Thesen von Kilez More auseinandergesetzt, der selbsternannte Prophet leitete einen Rap-Workshop und produzierte ein Video mit den Kids.

Seine Texte  haben es in sich: Die Anschläge vom 11. September waren kein Angriff von Al Kaida, denn, so der offenbar auch latent rassistische Prophet, „der Hirn hat weiß so was kann kein Turban- oder Bartträger“. Die wahren Täter waren vielmehr „die Menschen die den Staat verwalten, Orden und Logenbrüder die den gesamten Plan gestalten“, so heißt es in einem Track mit dem nicht unpassenden Titel „Geistesgestört“. Und die fidelen Logenbrüder sind dabei, noch größere Massaker anzurichten: „das Erwachen der Zeit ist weit und genau deswegen wollen sie uns vergiften – Fluorid im Wasser, Chemtrailwolken in den Lüften“[2]. Mit „Chemtrailwolken“ meinen die „Truther“ Kondensstreifen von Flugzeugen, die ihrer Ansicht nach chemische Substanzen zur Versklavung oder auch Vernichtung der Menschheit sind.

Aber wer sind eigentlich die Bösewichte? Auch darauf gibt es Antworten: „schwarz sind die Messen, die sie abhalten, um sich für die Rituale zu treffen, kapuzentragende Bestien, die von satanischen Mächten besetzt und gefesselt und besessen sind“[3] und „mit auferlegter Verschwiegenheit gehen und nehmen auch sie geheim an den ekligen Riten teil und sie beten Luzifers Heil, gehen Verträge mit diesem ein, dass er eben sein Ziel erreicht“[4].

Die willfährigen Diener des Gehörnten sind die Freimaurer sowie die Teilnehmer der „Bilderberger-Konferenz“, (eines auch real existierenden think tanks) und natürlich sämtliche internationalen Organisationen von der UNO bis zur EU. Ziel ist die „Eine-Welt-Regierung“ mit dem Satan als Kanzler. Unterrichtsthema in einer Wiener Mittelschule!

Für die 13- bis 14-jährigen SchülerInnen schien der workshop mit Rap und Gruselgeschichten eine willkommene Abwechslung zu sein. Schon vor der Videoproduktion wurden die Kids von der Lehrkraft entsprechend propagandistisch vorbereitet. So stellten die SchülerInnen auch Plakate mit Fotocollagen her sowie flotten Verschwörungstheoretikersprüchen: „Wir sind Infokrieger im Informationskrieg“[5].

Mario und Gabi schreiben auf ihr Plakat, das Kilez More stolz auf seiner homepage präsentiert: „Ich finde das was er singt uns die Augen geöffnet hat. Er singt über die Wahrheit und es hört sich gut an. Es wäre sehr schön wenn er zu uns kommt und für uns live singt“[6]. Diesen Wunsch erfüllte der Prophet.

„Moderne“ Weltverschwörungstheorien fanden in unseren Breiten zu Zeiten des Nationalsozialismus ihre größte Verbreitung. Die Nazis sahen eine Verschwörung eines „jüdisch-freimaurerischen Finanzkapitals“ am Werk, mit dem Ziel der Zerstörung Deutschlands. Auch der „Illuminatenorden“, ein ebenso bedeutungsloser wie sagenumwobener Geheimbund des späten 18. Jahrhunderts, wurde und wird in diesen Zusammenhängen immer wieder erwähnt. Neben rechtsextremen, okkult-esoterischen und erz-katholischen Zirkeln werden solche Verschwörungstheorien heute auch von fundamentalistischen Gruppierungen wie der Hamas oder den türkischen Milli Görüs verbreitet. Auch Teile der anti-imperialistischen Linken sind für die vermeintlich kapitalismus-kritischen Botschaften anfällig: So traten die „Truth-Rapper“ der „Bandbreite“ 2010 auch beim „Festival des politischen Liedes“ in Oberösterreich auf.


[1] Song „Der Prophet“

[2] Song „Infokrieger“

[3] Song „Massenpost“

[4] Song „Können wir das zulassen?“

[5] http://www.kilezmore.com/galerie/km-schulprojekt

[6] ebenda

 

Die Vergessenen von Wels-West

Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Problemviertels Noitzmühle sitzen in einem Boot – von der Politik weitgehend ignoriert müssen sie lernen gemeinsam zu rudern, wenn sie voran kommen wollen

„An einem an sich unscheinbaren Ort, im Volksmund `Noiz-Mühle` genannt, entsteht wieder ein neues Wels-Lichtenegg. Für gut 3000 Familien wird hier Platz geschaffen. Architekten und Bauleute schwärmen: Nach neuen Erkenntnissen der Gestaltung und Architektur, mit viel Kinder-Grün zwischen den Lang- und Hochbauten, mit Garagen `unten drunten`, mit Hobby-Räumen für die Freizeit, mit Platz für Kirche, Schule, Kindergarten, Einkaufszentrum.“

So schwärmte Sepp Käfer, Wels-Biograph in seinem 1975 als Buch erschienen „Porträt der Stadt“ über die im Entstehen begriffene Noitzmühle. Seine Erwartung „blühender Landschaften“ schien nicht gänzlich unberechtigt: Der neue Stadtteil, mit großen Wohnungen für Familien, lag verkehrsgünstig in der Nähe von Bundesstraße und der Autobahn, aber auch idyllisch an der Traun und ihrem Auwald. 2011 muß man über Käfers Hoffnungen schmunzeln – oder weinen. Schule und Kirche wurden nie gebaut; es stehen nur der Kindergarten und das Einkaufszentrum – letzteres allerdings nahezu leer. Einst gab es hier eine Bank, einen Friseur, eine Bäckerei, einen Blumenladen, ein Fotogeschäft, eine Trafik, ein Gasthaus, einen SPAR-Supermarkt und später auch ein türkisches Lebensmittelgeschäft. Einst. Jetzt gibt es davon lediglich die Trafik. Und ein oder zwei Wettbüros, jene untrüglichen Zeichen des Niedergangs. Vor dem Gasthaus, wo früher die Bürgermeister Ostereier oder Blumen zum Valentinstag verteilten, stehen heute Kerzen, als letzter Gruß für den Anfang Februar erstochenen Wirt. Das ist das Einkaufszentrum, von den Stadtplanern einfallsreich EKA-West getauft. Die Einheimischen haben gar keinen Namen dafür – man geht ja auch nicht mehr hin.

Anfang der 90er schrillten erstmals die Alarmglocken. In der Noitzmühle hatte sich eine Bande Neonazis gebildet, die mit Schlägereien und Einbrüchen von sich reden machte. Sozialarbeiter nahmen sich ihrer an; ein Jugendzentrum wurde eröffnet. Zumindest das Rechtsextremismus-Problem löste sich auch mit einer Veränderung der Bevölkerungsstruktur:

Als Mitte der 70er-Jahre die ersten großen Wohnungen für die Baby-Boomer fertiggestellt wurden, hörten diese doch glatt schlagartig mit dem Kinder kriegen auf. Die Geburtenrate sank so wie die Scheidungsquote anstieg. Klein- und Kleinstfamilien hatten weder Bedarf noch Geld für große Wohnungen. Normale Familienstrukturen, oder was man dafür hielt, existierten überdurchschnittlich noch bei türkischen oder jugoslawischen MigrantInnen, die jetzt in die Noitzmühle kamen.

Mit ihrem Kommen begann die Welser Politik ihr Interesse am Stadtteil zu verlieren. Was soll man sich auch groß um Leute kümmern, die einem nicht mal wählen können, die keine Lobby oder Interessensvertretung haben? Die Stimmung wurde schlecht. Die andren LichteneggerInnen, zu einem großen Teil „volksdeutsche“ und ungarische Flüchtlinge und deren Nachkommen, haben ihre eigenen Migrationshintergründe vergessen und stehen den neuen Nachbarn ablehnend gegenüber. FPÖ und ÖVP beginnen eine regelrechte Hetze gegen die NoitzmühlerInnen, notorische Querulanten bombardieren die Servicestellen des Magistrates mit Beschwerden: Die Kinder sind zu laut, im Stiegenhaus stehen Dreiradler, der Müll wird nicht richtig getrennt…

Die ÖsterreichInnen, die hier bleiben, sind oft aus sozial schwächeren und bildungsfernen Milieus, sie werden regelrecht gegen die TürkInnen aufgehetzt, mit denen sie ja eigentlich im selben Boot sitzen. Die Politik setzte nicht auf Sozialarbeit oder Schaffung lebenswerter Strukturen, sondern auf Verbote. Ab Ende der 90er-Jahre wuchs ein wahrer Wald an Verbotsschildern: Ballspielen in den Grünanlagen, Alkohol trinken im Park, Grillen auf den Schotterbänken an der Traun – verboten. Selbst am Fußballplatz ist das Fußball spielen nicht erwünscht – deshalb hat der Magistrat die Tore entfernt.

Wer Fußball spielen will, soll zu einem Verein gehen, steht auf Schildern zu lesen. In der Noitzmühle gibt es aber keinen Verein, sowie im gesamten Stadtteil Lichtenegg. Vernünftige Initiativen, meist von der sozialdemokratischen Basis, wie etwa die Forderung eines Stadtteilzentrums im ehemaligen SPAR-Markt, verhallen ungehört. Strukturen verbessern? Gern, aber zuerst mal dort, wo die reichen Kinder wohnen. Planungsfehler gab es auch bei den Freizeiteinrichtungen: Der Schlittenberg, über einem Bunker aus dem Krieg aufgeschüttet, ist nach Süden ausgerichtet, der Schnee schmilzt schnell weg. Auch das Jugendzentrum wurde wieder geschlossen. Die Räumlichkeiten waren ungeeignet, Ersatz ist ebenso bitter nötig wie nicht geplant. In der ganzen Lichtenegg gibt es für die etwa 800 Jugendlichen im Alter von 15 bis 18 Jahren kein Jugendzentrum mehr. Somit auch keinen Ort, wo die Jugendlichen mit Streetworkern in Kontakt treten könnten.

Öffentlichen Verkehr in die Innenstadt gibts weder in der Nacht noch an Sonn- und Feiertagen. Trotzdem Wels eine ausgesprochen niedrige Kriminalitätsrate hat, wurde eine „Ordnungswache“ installiert.

Die Noitzmühle ist heute eine vergessene Welt. Die Medien berichten von der westcoast, wie die Jugendlichen sagen, wenn dort wer stirbt. Die Schauplätze der letzten drei Tötungsdelikte in Wels liegen dort, im Umkreis von einigen Dutzend Metern.

Trotz alledem ist die Noitzmühle, vor allem ihre Bewohnerinnen und Bewohner, besser, lebenswerter als ihr Ruf. Die von der Sozialistischen Jugend und andren linken Gruppen organisierte Feier zum 1. Mai 2010 war ein großer Erfolg, an die 700 Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen haben sich daran beteiligt. Beim Aufstellen des Maibaums des „Aktiv-Teams“ engagierter BürgerInnen harmonierten Blasmusik und türkische Folkloretänze. Die Kinder und Jugendlichen begegnen einander oft vorurteilsfreier als ihre Eltern. An schönen Tagen spielen oft hundert oder mehr Menschen am torlosen Fußballplatz, und nicht selten besteht eins der zusammen gewürfelten Teams aus Angehörigen beider Geschlechter, dreier Generationen und vier oder mehr Nationalitäten. Und wenn einmal die Noitzmühlerinnen und Noitzmühler den Zusammenhalt und die Solidarität aus den Fußballmatches in die Realität übertragen können, werden sie auch ernst genommen werden. Zu hoffen bleibt dann auch, dass die WählerInnen erkennen, dass soziale Probleme mit Hetzparolen und Schikanen nicht gelöst, sondern vergrößert werden und sich jene, die nur Öl ins Feuer gießen wollen, dabei mal ordentlich die Finger verbrennen.

Fakten:

12 542 EinwohnerInnen zählt Wels-Lichtenegg, davon 2579 Nicht-österreichische StaatsbürgerInnen (Anteil etwa 30 % in der Noitzmühle, etwa 20 % in ganz Lichtenegg). 2009 waren mehr als 3000 LichteneggerInnen unter 18 Jahre alt, 767 im Alter von 15 – 18.

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wels 2009

 

 

23. 9. 2013 Kepler-Salon zu Migration und Altenpflege

Wenn die Oma plötzlich polnisch spricht – Migration und Altenpflege

Der Bereich der Alten- und Krankenpflege – mit dem großen Schlagwort Pflegenotstand – verzeichnet in seiner Personalstruktur einen besonders hohen Anteil von MigrantInnen. Ohne ZuwanderInnen – insbesondere aus Osteuropa – wäre unser Gesundheitssystem bereits kollabiert. Umgekehrt werden Menschen mit Migrationshintergrund bald auch als Pflegebedürftige eine Rolle spielen. Im Kepler Salon diskutieren wir die vielfältigen Beziehungen zwischen Migration und dem Pflegebereich.

Mo, 23.09.2013, 19:30
Vortragende/r: Thomas Rammerstorfer
GastgeberIn: Christine Haiden

Kepler Salon
Verein zur Förderung von Wissensvermittlung
Rathausgasse 5
4020 Linz

 

12. 9. 2013: „Blut muss fliessen“ in Salzburg

Filmvorführung – anschließend Diskussion mit Regisseur Peter Ohlendorf und Thomas Rammerstorfer

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Blut muss fließen. (R: Peter Ohlendorf, D 2012) Einblicke in eine Jugendszene, zu der kaum ein Außenstehender Zutritt hat. Sechs Jahre lang hat der Journalist Thomas Kuban mit versteckter Kamera auf Neonazi-Konzerten gefilmt. Der Autor Peter Ohlendorf hat Thomas Kuban auf seiner Reise durch Deutschland, Österreich und Europa mit der Kamera begleitet. 2012 lief der Film auf der Berlinale und wurde in Nürnberg mit dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet. DONNERSTAG, 12.09.2013 um 17 Uhr im „Das Kino“ http://www.mysoundofmusic.at/

Bushido: Der Weg des Spießers

Als Bushido anno 2009 den Integrationspreis bekam war ich nicht dagegen. Er hat sich perfekt in die Gesellschaft integriert. Zum einen ökonomisch als Musiker und Immobilienspekulant, aber vor allem in Bezug auf sein Weltbild. Sexismus, Homophobie, Gewaltverherrlichung und Antisemitismus sind keine Werthaltungen, die sich auf extremistische Kreise beschränken, sondern stammen direkt aus der Mitte unserer Gesellschaft. Die Verhöhnung der ökonomisch Schwachen durch die ökonomisch Starken, das Glorifizieren des sozialen Aufsteigers, der das herrschende Recht des Stärkeren rücksichtslos anwendet: das ist nicht deutscher Rap, sondern Realität im Kapitalismus.

Da passt jene Episode gut dazu, die Bushido hierzulande erst über das Milieu hinaus bekannt machte. 2005 wurde sein Auto – das wichtigste Statussymbol des ökonomischen Aufsteigers! – in Linz beschädigt. Bushido schaffte es gemeinsam mit zwei Helfern den mutmaßlichen Täter, einen 19-jährigen, zu verprügeln. Gangstarap? Nein, Spießertum in Reinkultur. Und das zieht sich durch den  Lebens-„Weg des Kriegers“. Da mahnt er zwar gerne Privatpersonen ab und will Geld, wenn mal ein Track auf einer Internettauschbörse landet, klaut aber selbst reihenweise bei KollegInnen (er ist deswegen auch rechtskräftig verurteilt). Er hält sich für den „Staatsfeind Nr. 1“ und absolviert 2012 ein Praktikum im Bundestag bei einem Politiker der CDU, mit der er seine wertkonservativen Ansichten teilt. Freundlicherweise blieben bei seinen jüngsten Tiraden gegen PolitikerInnen auch jene der CDU/CSU außen vor. 2010 durfte der Staatsfeind sogar die offizielle Hymne der deutschen Nationalmannschaft zur Fußball-WM, „Fackeln im Wind“, trällern. Ein Höhepunkt in einem deutschen Spießerleben, so was von integriert!

Da blieb aber ein Problem: Das patriotische Gedöns von „Fackeln im Wind“ war seine bisher letzte Top Ten-Platzierung in den Singlecharts. Die Alben schafften zwar bessere Einstiege, in Stückzahlen gemessen ging deren Verkauf aber auch zurück. Die Marginalisierten hatten sich von Bushido ab- und glaubwürdigeren Rappern zugewandt. Zudem kauften sie nur ungern Musik, die über Tauschbörsen frei erhältlich ist. Noch schwerwiegender: Bushidos eigenes Label, „ersguterjunge“, steckt vermutlich stark in der Krise. Nach dem Abgang der Stars wie Eko Fresh, Fler oder Kay One blieben 2013 überhaupt nur mehr der Meister himself und der noch wenig bekannte Shindy über. Dass der umstrittene Bushido-Track „Stress ohne Grund“ nun auf einer Shindy-CD erschien soll wohl dessen bis dato eher laue Karriere befeuern. Wenn es in der Firma kriselt, werden die „Werbebotschaften“ aggressiver. Der Stress hat also durchaus Grund.

Radiobeitrag zu „Blut muss fliessen“

Die KUPFradioshow wirft einen Blick auf die rechtsextreme und brauntoneklein2neonazistische Szene, besonders darauf, welchen Einfluss rechte Musik hat und wie Jugendkulturen und in weiterer Folge auch die Alltagskulturen bis in die Mitte der Gesellschaft beeinflusst werden.

Blut muss fließen – Undercover unter Nazis“ ist der Dokumentarfilm von Peter Ohlendorf, in dem ein Journalist unter dem Pseudonym Thomas Kuban in die Neonazi-Szene eintaucht. Mit versteckter Kamera hat er über sechs Jahre bei ca. 60 Neonazi-Konzerten die Stimmung eingefangen – vor allem in Deutschland, aber auch zum Beispiel in Italien, Ungarn und Österreich.

Außerdem steht im Fokus des Films der Umgang von Medien und Behörden mit Rechtsextremismus.

Anfang Mai wurde der Dokumentarfilm in den neuen Kinosälen des Programmkino Wels gezeigt. Im Anschluss daran gab es eine Diskussion. Ausschnitte daraus sind in der Sendung zu hören. Mit Hanna Mayer vom Programmkino sprachen Regisseur Peter Ohlendorf und Rechtsextremismus-Experte Thomas Rammerstorfer über den Film und über die Neonaziszene – insbesondere über die Situation in Österreich, die im Film selber nur kurz angeschnitten wird.
Hier zu hören:

http://cba.fro.at/112571

Redebeitrag bei der Gezi-Park-Soliveranstaltung am 6. Juli in Linz

Ich danke euch sehr für die Möglichkeit hier einige Sätze zu sagen. Ich habe die Freude gehabt, Anfang Juni in der Türkei – wenn auch nur als Tourist in Bodrum – ein bisschen etwas vom Duft der Revolution zu kosten.

Nach meiner Rückkehr wurde ich sehr schnell auf den Boden – auf den tiefen, tiefen Boden – der österreichischen Realpolitik zurück geholt. Der ORF lud den rechtsextremen Andreas Mölzer als Türkei Experten. „Grüne“ Politiker träumten von der Abschiebung von AKP-Anhängern oder davon, Menschen aus der Türkei vor der Verleihung der Staatsbürgerschaft besonders zu überwachen. Unser „Integrationsstaatssekretär“ Sebastian Kurz möchte unseren MitbürgerInnen aus der Türkei überhaupt das Demonstrationsrecht, einen Grundpfeiler der Demokratie, absprechen.
Zu den AnhängerInnen der AKP möchte ich sagen: Wir sollten mit Worten um ihre Köpfe und ihre Herzen kämpfen. Nicht mit Drohungen. Durch Drohungen macht man niemand zu einen Demokraten.

Die Kommentare der österreichischen Politiker zeigten generell ein strohdummes Schwarz-Weiß-Denken. Und sie sind verlogen: Während man die Türkei vorderhand kritisiert, und gegen TürkInnen polemisiert, unterstützt man ihren Repressionsapparat mit Auslieferungen und Abschiebungen angeblicher „linker Terroristen“ – wie im Fall des Ali Yesil, wie im Fall des angeblichen DHKP-C-Mitglieds aus Wien, der vor einer guten Woche von der österreichischen Polizei verhaftet wurde. An dieser Stelle möchte ich fordern, dass überhaupt keine Menschen mehr an die Türkei ausgeliefert oder abgeschoben werden, schon gar nicht wegen angeblicher politischer Delikte!

Auch die kurdische und türkische Linke muss aus ihren Fehlern der Vergangenheit lernen. Der Dogmatismus und die Engstirnigkeit der Vergangenheit haben ihre Niederlagen herbeigeführt und die Feinde der Menschlichkeit triumphieren lassen. Wenn ich die heutigen Bewegungen betrachte, sehe ich viel Hoffnung: Die Entwicklung der kurdischen Bewegung weg vom Nationalstaatsdenken hin zu neuen Konzepten wie dem „demokratischen Konföderalismus“; und jetzt die Gezi-Park-Bewegung mit ihrem unglaublichen Potential an Solidarität, Kreativität und Mut. Hier entsteht eine neue Türkei. Eine neue Türkei in der es egal ist, ob jemand Türke oder Kurde ist, Mann oder Frau, Sunnit oder Alevit, überhaupt egal ob Christ, Jude, Moslem oder Atheist, in der es reicht, Mensch zu sein.

Dankeschön. Her yer Taksim, her yer direnis!
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Wenn die Oma plötzlich polnisch spricht. Migration und Seniorenbetreuung in Wels

Mit dem Fortschreiten ihrer Demenzerkrankung änderte sich so manches bei Frau Lehner[1]. Dass sie aber eines Tages statt breitem oberösterreichischen Dialekt nur mehr polnisch sprach kam dann schon überraschend. Die Recherchen der Enkel brachten die Lösung: Die Oma war zwar 1917 in Österreich-Ungarn geboren worden – aber als Angehörige der polnischsprachigen Minderheit in Galizien. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges heiratete sie einen Österreicher, dessen Land eben zu existieren aufgehört hatte, wurde somit Deutsche und schließlich war sie am Ende wieder Österreicherin, wie am Tag ihrer Geburt. Ein Menschenleben wie die Geschichte Mitteleuropas. Zum Vorschein kamen ihre Wurzeln allerdings erst durch ihre Alzheimer-Erkrankung. Diese hatte eine progrediente Verlaufsform, d. h. sie vergaß das später Erlernte zuerst und hatte das früh Erlernte länger im „Speicher“. So blieb polnisch über, als deutsch weg war.

Frau Lehner ist wie die überwiegende Mehrheit der BewohnerInnen der Häuser der Seniorenbetreuung nicht in Wels geboren. Sie kam der Liebe wegen in die Stadt, andere auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, nach Arbeit und Bildungschancen, viele auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung. Wir haben die Innviertler ArbeitsmigrantInnen der 1920er, die von den Nazis zwangsumgesiedelten Südtiroler „Optanten“ und Rumänien-Deutschen, die vertriebenen OsteuropäerInnen der Nachkriegswirren, die ungarischen Flüchtlinge von ´56, die „Boat People“ aus Kambodscha und Vietnam. Ein Meer an erlebter Geschichte und Geschichten, manchmal fast verschämt erzählt, als sei es etwas Unmoralisches, sein Leben verbessern oder schlicht retten zu wollen.

Die MigrantInnen aus Osteuropa, der Türkei und Jugoslawien, die ab den 1960ern als Arbeitskräfte angeworben wurden oder als Verfolgte aus ihren Heimatländern flohen, sind noch nicht in den Heimen angekommen. Zumindest nicht als BewohnerInnen – als Pflegepersonal sind sie unabkömmlich. In Wien haben bereits zwei Drittel des Pflegepersonals Migrationshintergrund, in Wels dürfte es etwa ein Drittel sein. Allein an der Stätte meines pflegerischen Wirkens – Vogelweide/Laahen – arbeite ich mit KollegInnen aus Kenia und Kirgisistan, aus der Türkei, Deutschland, der Ukraine, aus Ghana, Chile, China und allen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens. Es ist also bereits ein gewaltiges Potential an Sprachkenntnissen und „interkultureller Kompetenz“ vorhanden. Und die werden wir in den nächsten Jahren wohl brauchen. Auch wenn viele Menschen ihren Lebensabend lieber in ihrer alten Heimat verbringen und wohl auch der familiäre Zusammenhalt im Schnitt höher ist als bei „Einheimischen“, wird der Anteil von Menschen insbesondere mit jugoslawischen oder türkischen Wurzeln in den Welser Heimen sicher ansteigen. Ein Grundwissen um z. B. orthodoxe und muslimische religiöse Traditionen und Riten wird daher bereits bei den meisten Berufsausbildungen im Pflegebereich vermittelt.

2015 wird einen neues Heim der Seniorenbetreuung in Lichtenegg-Noitzmühle eröffnet. An keinem anderen Ort in Wels und wahrscheinlich an wenig anderen Orten überhaupt in Österreich ließe sich die Migrationsgeschichte – und sogar ein gutes Stück Weltgeschichte! – besser veranschaulichen als hier. Im neuen Heim, das für viele die letzte Station auf ihrem Lebensweg sein wird, könnte Platz sein für ein kleines Museum der Flucht: Den Aufbruch, den Weg und die Ankunft. Ein Ort des Erinnerns für die Alten und des Lernens für die Jungen. Und wo die Oma wieder polnisch sprechen kann.

Thomas Rammerstorfer, aus Reizend Nr. 6


[1] Name geändert